Text von Björn Vedder zu Clairvoyant – Vanilla Amygdala
Riechen heißt, in der Zeit zu reisen. Denn der Geruch führt uns zurück in die Vergangenheit. Das können andere Reize auch, aber keiner stößt die Türen in das Reich der Erinnerung so weit auf wie der Geruch. Denn keiner ist so eng mit unseren Gefühlen verbunden. Das hat zum Teil evolutionäre Gründe, weil uns Gerüche vor Gefahren warnen, aber auch physiologische. Die Geruchswahrnehmung liegt im Gehirn nämlich nahe bei der Amygdala, dem sogenannten Mandelkern, der eine wichtige Rolle dabei spielt, Situationen emotional zu bewerten. Und er hilft uns, Gefahren zu erkennen. Das macht ihn zu einem Werkzeug der Erinnerung und der Voraussage, der Reisen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Der Mandelkern ist eine Zeitreisemaschine und ihr bester Treibstoff ist der Geruch.
Auf dieses Verhältnis von Geruch, Gefühl und Zeitreise bezieht sich Thomas Zitzwitz‘ Ausstellung Clairvoyant, was auf Deutsch soviel heißt wie Hellseher oder hellseherisch. Die Ausstellung versammelt Arbeiten aus den letzten dreißig Jahren – mit einem Schwerpunkt auf neuen Bildern, die durch einen Vanilleduft verbunden sind.
Zitzwitz ist für olfaktorische Arbeiten bekannt, Nach Pangaea (1995), Barbapapa (1996) oder Mio dolce Amor (2022). Alle verbinden mit dem Geruch eine Geschichte oder rufen bestimmte Erinnerungen hervor. In Clairvoyant ist der Vanilleduft mit einem Gefühl des Glücks und seligen Erinnerungen verbunden – nicht nur für den Künstler selbst, sondern für sehr viele Menschen. Vanille ist das kollektive olfaktorische Gedächtnis dessen, was uns Menschen lieb und teuer ist.
Damit berührt der Duft eine zweite Quelle der Ausstellung, den Film La Bête (The Beast, 2023) von Bertrand Bonello. Zitzwitz lässt sich oft von Filmen inspirieren. Dieser Film zeigt eine Dystopie in der nahen Zukunft. Die Welt wird von einer Künstlichen Intelligenz beherrscht und die Menschen müssen sich von ihren Gefühlen und Erinnerungen reinigen lassen, damit sie mit der KI kompatibel sind und vollkommen rationale Entscheidungen treffen. Das führt beim Liebespaar Gabrielle und Louis zum Scheitern ihrer Beziehung.
Bonello bezieht sich mit seinem Film auf eine Novelle von Henry James, The Beast in the Jungle (1903). Sie handelt von einem jungen Mann, der meint, ihm sei ein großes Schicksal im Leben geweissagt worden, und dieses Leben verschwendet, indem er darauf wartet. Damit verarbeitet Autor James, wie Zitzwitz meint, eigene Erfahrungen. James verpasste nämlich jede Liebe in seinem Leben, weil er immer auf den perfekten Moment und die perfekten Mittel wartete, um sie zu erlangen.
So verbindet die Ausstellung Erinnerungen und Gefühle mit Entschlüssen und Handlungen. Das ist insbesondere im Hinblick auf die im Film thematisierte Bedrohung durch Künstliche Intelligenz relevant, denn diese Verbindung lässt vermuten, dass diese Bedrohung vielleicht doch nicht so groß ist, wie angenommen. Die KI kann nämlich, wie der junge Mann in James‘ Novelle, nur die richtigen Mittel und den richtigen Zeitpunkt finden, um etwas zu tun. Sie kann aber nicht entscheiden, was sie tun soll. Denn sie vermag sich selbst keine Ziele zu setzen. Sie kann sich zu nichts entschließen, weil vor dem Hintergrund ihrer logischen Operationen alle Inhalte gleichwertig sind. Sie ist, philosophisch gesprochen, ein Vermögen der Mittel und nicht der Zwecke. Diese Zwecke, das was uns lieb und teuer ist, gibt uns nur unser Gefühl, in dem es Situationen darauf hin bewertet, wie sie unserer Meinung nach sein sollen. Und dabei helfen uns unsere Erinnerungen. Eine Intelligenz kann uns sagen, wie wir etwas erlangen. Ob wir es wollen, das sagt uns sein Duft.
An diesen Wert des Gefühls erinnert Zitzwitz’ Ausstellung. Seine gefühlvollen, in Vanille gehüllten Bilder führen uns von den Berechnungen im alltäglichen Geschäft zurück zu dem, was uns wirtlich ist.