Zu den Spray Paintings von Thomas Zitzwitz

»Alles faltet sich auf seine Art und Weise, die Schnur und der Stab,
aber auch die Farben, welche sich nach der Konkavität und Konvexität
des Lichtstrahls aufteilen, und die Töne, die desto höher sind, ›je
kürzer und gespannter die Teile sind‹.«
Gilles Deleuze, Le pli. Leibniz et le baroque, Paris 1988

In der Musik bezeichnet man als Suite eine Abfolge von Stücken mit einem gemeinsamen programmatischen Schema. Unter dem Ausstellungstitel Suite for Spray Gun versammelt Thomas Zitzwitz eine Reihe von Bildern, die unter Verwendung einer Sprühpistole entstanden sind – ein technisches Gerät, das üblicherweise in der Industrie eingesetzt wird, um Farben und Lacke aufzutragen. Die andere programmatische Gemeinsamkeit der Exponate ist, dass das Farbmaterial auf unregelmäßig gefaltete Leinwände gesprayt und der Bildträger erst anschließend auf Keilrahmen gespannt wurde.

Das Verfahren der Spray Paintings lässt sich als gelenkter Zufall charakterisieren. Denn das Ergebnis dieses teils gesteuerten, teils aleatorischen Prozesses wird erst sichtbar, wenn die Leinwand auf dem Keilrahmen zu einer ebenen Fläche wird – darin einem Filmmaterial, das nach der Belichtung erst noch chemisch entwickelt werden muss, nicht unähnlich. Zunächst wird auf der am Boden ausgebreiteten grundierten oder ungrundierten Leinwand mithilfe von Klebestreifen ein Areal definiert; dieses präpariert der Künstler anschließend gewissermaßen wie ein Cage’sches Klavier, indem er den Stoff manipuliert und gelegentlich unterhalb der Leinwand Gegenstände platziert, um die Faltenwürfe zu gestalten. Die so vorbereitete Fläche wird mit dem spray gun – monochrom oder polychrom – von allen Seiten der Leinwand bearbeitet, sodass Partien, die auf der Rückseite eines Grats liegen und vom Farbnebel nicht getroffen werden, leer bleiben, während sich das Farbmaterial an anderen Stellen verdichtet oder dort, wo die Aufnahmefähigkeit der Leinwand erschöpft ist, opake Farbseen entstehen. Die Assoziation von tiefenräumlichen Landschaften verbindet manche der Spray Paintings mit Kompositionen des Abstrakten Expressionismus wie etwa Helen Frankenthalers monumentalem Mountain and Sea (1952) – ein Effekt, der in einigen Arbeiten durch abgeklebte Streifen an den Rändern des Bildfeldes konterkariert wird, die die räumliche Wirkung stören und stattdessen den Malprozess als solchen betonen.

Es versteht sich von selbst, dass Thomas Zitzwitz nicht der erste Künstler in der Geschichte der Malerei ist, der mit den Faltungen und Knicken von Leinwänden experimentiert. Offenkundig geht es im Malereidiskurs nach dem Modernismus nicht um Originalität und Authentizität, sondern um Differenzbeziehungen und produktive Abweichungen. So lässt sich der Titel Suite for Spray Gun auch verstehen als Reverenz vor einem historischen Vertreter der pliage, dem Exilungarn Simon Hantaï (1922–2008). Als Kunststudent verließ Hantaï 1948 das Territorium des Sozialistischen Realismus und siedelte in die damalige Welthauptstadt der Kunst Paris über. Dort entstand zwischen 1969 und 1973 seine Werkgruppe der Études (besonders in der Musik die Bezeichnung für Übungen zur Steigerung der technischen Fähigkeiten): großformatige, auf vielfach gefalteten Leinwänden ausgeführte All over, auf denen die unbemalten hellen Stellen an ein Geflecht aus Bambusblättern vor einem monochromen Hintergrund denken lassen.

Nicht zuletzt markieren die Spray oder Crumple Paintings von Thomas Zitzwitz eine Differenz innerhalb seiner eigenen künstlerischen Praxis. So hatte er in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre häufig installativ und multimedial (unter anderem mit Videos und Gerüchen) gearbeitet. Gegen Ende jener Dekade konzentrierte er sich zunehmend auf die malerische Arbeit mit Interferenzpigmenten, die in transparentem Acrylgel gebunden mit Rakeln auf Leinwand aufgetragen werden. Die licht- und farbgesättigten Oberflächen dieser Bilder, die teils durch harte horizontale Kanten in zwei oder drei unterschiedlich strukturierte Felder gegliedert sind, verändern abhängig vom Blickpunkt der Betrachter und der Lichtsituation ihre Farbigkeit. Ihr hybrider, atmosphärischer Charakter – nicht nur chromatisch instabil, sondern auch im Hinblick auf ihre Gattung zwischen Bild und Objekt changierend – wurde noch deutlicher, als sie 2007 in dem Künstlerbuch Moleskine orangée erschienen. Dort machte die Gegenüberstellung mit privaten Kodachrome-Fotografien, die aus der Kindheit des Künstlers in Südfrankreich datieren, die leuchtenden Gemälde auch als abstrakte Erinnerungsbilder lesbar. Als Thomas Zitzwitz wenig später, Anfang 2008, mit der Arbeit an den ersten Spray Paintings begann, ging es dabei auch um eine bewusste Wendung von der »glänzenden, dickeren Oberfläche« der Malerei mit Interferenzpigmenten zu einer »formaleren und weniger assoziativen« Bildwirkung, wie er in seinem E-Mail-Austausch mit dem amerikanischen Künstler David Reed formulierte.

Der eingangs erwähnte Bezug zum Film ist für die Spray Paintings, deren visuelle Erscheinung sich erst durch die Glättung auf dem Keilrahmen »entwickelt«, noch in anderer Hinsicht bedeutungsvoll. Eine ihrer bemerkenswertesten Eigenschaften ist ihre illusionistische, teils geradezu fotorealistische Räumlichkeit, da die Dreidimensionalität der Faltung im Farbauftrag als Spur auf der gespannten Leinwand erhalten bleibt. Tatsächlich kann man sie – ebenso wie fotografische und filmische Bilder – mit dem Philosophen Charles S. Peirce als indexikalisch bezeichnen. Denn zwischen dem räumlichen Arrangement der Leinwand auf dem Atelierboden und der visuellen Erscheinung der Spray Paintings als zweidimensionale Gemälde besteht ein kausaler physischer Zusammenhang – ähnlich wie im Film oder in der Fotografie der aufgenommene Gegenstand und das fotografische oder filmische Abbild physisch miteinander verknüpft sind. So wie die Faltung eine Übergangsform zwischen Kontinuität und Bruch ist – geeignet, wie Deleuze schreibt, »Divergenzen, Unvereinbarkeiten, Unstimmigkeiten und Dissonanzen […] auf ebenso viele mögliche Welten« zu verteilen –, changieren die Spray Paintings von Thomas Zitzwitz ständig zwischen Illusionismus und Selbstreferenzialität: ein Moment der Instabilität und Mehrdeutigkeit, der für seine malerische Herangehensweise grundlegend bleibt.

Barbara Hess, 2014