Nicht die Notwendigkeit,
sondern der Zufall ist voller Zauber.

Milan Kundera

 

Die Vögel des Zufalls

Der Titel, den Thomas Zitzwitz der von ihm kuratierten Aus­stellung gegeben hat, ist ein Zitat aus dem Roman Die uner­trägliche Leichtigkeit des Seins (1984) von Milan Kundera. Kundera beschreibt darin die Schicksale zweier Liebespaare und die Rolle, die Zufälle dabei spielen. Von einem Paar, Teresa und Tomas, heißt es etwa, diese Stelle hat Zitzwitz ausgesucht: „Vor sieben Jahren trat zufällig im Krankenhaus der Stadt, wo Teresa wohnte, ein komplizierter Fall einer Gehirnkrankheit auf, und Tomas’ Chefarzt wurde zu einer dring­enden Konsultation gebeten. Zufällig hatte dieser Chef­arzt Ischias, konnte sich nicht bewegen und schickte Tomas zur Vertretung in das Provinzkrankenhaus. In der Stadt gab es fünf Hotels, doch Tomas stieg zufällig dort ab, wo Teresa arbeitete. Zufällig hatte er vor der Abfahrt noch etwas Zeit, und er setzte sich ins Restaurant. Teresa hatte zufällig Dienst und bediente zufällig an seinem Tisch. Es waren also sechs Zufälle nötig, um Tomas auf Teresa hinzustoßen, als hätte er selbst gar nicht zu ihr gewollt.“

Bei Teresa ist es ähnlich: Tomas taucht nicht nur zufällig in dem Lokal auf, in dem sie arbeitet. Das Radio spielt in dem Moment auch zufällig ein Lied, das ihr gut gefällt und das gibt der Situation den Anschein des Besonderen und der Schicksalhaftigkeit, die wir der Liebe mitunter beilegen. „Wie war es möglich, daß sie gerade jetzt, wo sie dabei war, diesem Unbekannten, der ihr gefiel, einen Cognac zu servieren, Beethoven hörte?“ „Nicht die Notwendigkeit,“ schreibt Kundera, „sondern der Zufall ist voller Zauber. Soll die Liebe unvergeßlich sein, so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf den Schultern des Franz von Assisi.“ Auch Teresa und Tomas verlieben sich ineinander, sie werden ein Paar. Und ihre Liebe wird ihr Schicksal. Tomas flieht mit Teresa in den Westen. Sie leidet unter seinen Affären und geht zurück nach Prag. Er folgt ihr und muss fortan als Fensterputzer arbeiten. Weitere Affären und weiteres Leid folgen. Schließlich versucht das Paar auf dem Land einen Neuanfang, beide sterben jedoch bei einem Verkehrsunfall. Zufall und Schicksal sind miteinander verwoben. Das, was zufällig geschieht, also auch anders sein könnte, erweckt den Anschein des Schicksalhaften, also Zwangsläufigen und Vorher­be­stimmten und das, was einem Menschen im Rückblick als sein Schicksal erscheint, entpuppt sich von vorne gesehen als glückliche oder unglückliche Verkettung von Zufällen.

Aber gibt es überhaupt Zufälle? Leibniz, der barocke Philosoph, der von einer vollständigen Berechenbarkeit der Welt träumte, schreibt in seiner Theodizee (1710), dass „nichts geschieht, ohne dass es eine Ursache oder wenigstens einen bestimmenden Grund gibt, d. h. etwas, das dazu dienen kann, a priori zu begründen, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer anderen Weise existiert“ und meint, dass immer nur dann von Zufällen die Rede sei, wenn wir diesen Grund nicht kennen.[i] In den Naturwissenschaften und dem entsprechenden Weltbild wirkt diese Auffassung bis heute fort. Sie unterlegt der Welt eine logische Struktur und geht davon aus, dass zu jeder Wirkung eine Ursache gefunden werden kann, die sie voll­ständig erklärt.

Dabei gibt es verschiedene Methoden, diese Ursache heraus­zufinden. Eine ist z.B. die Statistik. Sie sammelt Daten über die relative Häufigkeit von Ereignissen, um Beziehungen zwischen ihnen zu entdecken. Ein Beispiel dafür liegt der Arbeit 1417+ (2013) von Alicja Kwade zugrunde, nämlich die astronomischen Aufzeichnungen über Asteroiden, die ihrer Größe und Flugbahn wegen für die Erde gefährlich sein könnten. Kwade überträgt die Aufzeichnungen kalligraphisch auf Papier und legt Steine als Symbol für die Himmelskörper darunter. Die Aufzeichnungen beginnen 1932 mit dem Aster­oiden Apollo und enden 2013, dem Jahr, als Kwade die Arbeit fertigstellte, mit dem Asteroiden qR 1. Die kleinen Himmels­körper werden so zahlreich, insgesamt sind es 1417, dass den Astronomen die Götternamen ausgehen. Es werden auch jedes Jahr mehr, die gesichtet werden. 1932 ist es einer, 2013 sind es siebenundfünfzig. Woher kommt das? Hat Gottes Artillerie die Frequenz erhöht, mit der sie unsere Erde beschießt? Nähert sich Armageddon? Oder haben die Himmels­forscher einfach genauer hingesehen? Letzteres könnte auch die Lücke zwischen 1937 und 1947 erklären, in der kein einziger Asteroid gesichtet wurde. Das kommt so nie wieder vor. Nicht unwahrscheinlich also, dass es gleichwohl welche gab, sie allerdings nicht gesehen oder protokolliert wurden. Anscheinend hatten die Menschen in diesen zehn Jahren anderes zu tun, als den Himmel nach Asteroiden abzusuchen, z.B. einen Weltkrieg zu führen und die Welt (beinah) ganz allein zu zerstören.

Kwade hat die Arbeit für eine Ausstellung im Haus Esters des Kunstmuseums Krefeld entwickelt, der sie den Titel Grad der Gewissheit gab, um darauf aufmerksam zu machen, wie brüchig und hypothetisch die vermeintlich sicheren Zusammenhänge sind, mit denen wir uns die Welt erklären. Das gilt nicht nur für statistische Beschreibungen, sondern letztlich auch für kausale Erklärungen selbst, die gleichfalls eine Form der Statistik sind, wie Leibniz´ Kontrahent David Hume bemerkte. Denn, was wir Kausalität nennen, ist nur die gewohnheitsmäßige Verknüpfung von Ereignissen, die in der Vergangenheit häufig zusammen aufgetreten sind und von denen wir deshalb glauben, dass sie es auch in Zukunft tun werden. „Wenn aber viele gleichförmige Beispiele auftreten und demselben Gegenstand immer dasselbe Ereignis folgt“, so Hume „dann beginnen wir den Begriff von Ursache und Wirkung zu bilden“.[ii] Wir schauen die Welt so an, als ob ihre Ereignisse kausal miteinander verknüpft wären, d.h. aber nicht, dass sie es tatsächlich sind. Ohne diese Unterstellung könnten wir allerdings keine Erfahrung machen und auch keine Erklärungen abgeben, wie Kant präzisiert hat. Dafür ist Kausalität notwendig.[iii]

Sie ist es auch für unser Handeln, denn, wenn immer wir etwas tun, um einen Zweck zu verfolgen, fragen wir uns, welche Mittel dafür zweckmäßig sind und d.h., was wir tun müssen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass das, was geschieht, nicht vorherbestimmt, sondern kontingent oder eben zufällig ist. Alles könnte auch anders sein. Schließlich wären wir überhaupt nicht in der Lage zu handeln, wenn alles seinen vorherbestimmten Gang nähme. Das Reich, in dem wir handeln, so Aristoteles, liegt im Reich der Kontingenz.[iv] Es ist der Raum, in dem die Dinge auch anders sein könnten. Was sich in diesem Raum dann konkret ereignet, ohne dass es einen Grund gibt, nennen wir Zufall. Indem wir handeln, bringen wir jedoch eine Ordnung in die Kontingenz. Wir geben dem, was so oder anders sein könnte, eine bestimmte Form und tun dies mit Mitteln, von denen wir annehmen, dass sie der Grund dafür sind, dass die Dinge so kommen, wie sie kommen sollen – und nicht anders. „Wenn ich das und das tue, werde ich genau dieses Ergebnis erzielen“. Nicht selten werden wir jedoch enttäuscht und es kommt anders als geplant. Wir denken dann vielleicht, das Schicksal habe unsere Pläne durchkreuzt und sagen, es hätte nicht sollen sein, im Grunde ist es jedoch viel banaler. Da unser Handeln nur im Reich der Kontingenz möglich ist, ist es auch stets den Anbrandungen des Zufalls ausgesetzt, denn wir wären gar nicht in der Lage zu handeln, wenn die Dinge nicht immer auch anders sein könnten. Das macht jedoch unser Handeln und den Zufall zu Konkurrenten. Die Vorstellung von Handeln, die hier zugrunde liegt, nämlich das Setzen von Wirklichkeit, wird kaum je emphatischer gefeiert oder verneint als in der Kunst und das beschriebene Verhältnis von Kontingenz, Handlung und Zufall ist ein Grund­thema der Arbeiten, die Zitzwitz in der Galerie Norbert Arns versammelt hat.

Die Arbeit von Robert Kraiss (o. T. 2021) z.B. ist so ent­standen, dass der Künstler zunächst eine kleine Skizze von etwas Gegenständlichem angefertigt hat, die er, seiner Ein­gebung folgend, weiterbearbeitete, bevor er sie mit dem Beamer auf Papier projizierte, vergrößerte und erneut bear­beitete. Dabei benutzte er Buntstifte, die er in einen Akku­schrauber eingespannt hatte, der beim Malen lief. Bei diesem Vorgehen unterläuft die harte und grobe Motorik der Maschine die kontrollierte Zeichenbewegung der Hand, beschleunigt das Malen und macht es gestischer. Kraiss wählt diese Methode, weil er will, dass der Zufall gegen die künstlerisch geführte Hand anbrandet. Überdies versucht er, die Führung der Hand einer bewussten Kontrolle zu entziehen und einer peinture automatique anzunähern, bei der die künstlerische Setzung der Zensur des Verstandes entzogen ist. Damit setzt er das Werk jedoch der Gefahr aus, in einer turbulenten Unordnung zu versinken, für die Hesiod das schöne Wort Chasma gefunden hat: die richtungslos stürmende Materie im tartarischen Abgrund zwischen Erde und Unterwelt.[v] Deshalb greift der Künstler im Gegenzug auch zu Mitteln, die den Zufall begren­zen, wie etwa die Schicht aus weißem Buntstift, die auch die disparatesten Formen noch zusammenhält und dem Bild mit dem Anschein der formalen Geschlossenheit auch den Anschein von Sinn und Bedeutung gibt.

Als Vorbild für seine Arbeiten nennt Kraiss die Arbeit 3 Stoppages étalon (1913/14) von Marcel Duchamp, bei welcher der Künstler drei ein Meter lange Fäden aus einem Meter Höhe auf die Leinwand fallen ließ und dort fixierte. Duchamp kommentierte das so, dass es ihm nicht mehr darum ging, Bilder zu malen, sondern eine experimentelle Anordnung zu treffen, aus der dann vielleicht ein Bild hervorgeht – oder auch nicht – und begründete damit die Ästhetik des Zufalls in der Kunst des 20.Jahrhunderts: eine neue Form der künstlerischen Praxis, die logisch rational vorgeht, um absurde Konstellationen zu schaffen. So ein Vorgehen ist auch Kraiss‘ Malerei mit dem Akkuschrauber über der Projektion einer Skizze und im Gefolge seiner Einfälle. Zugleich führt Duchamps Arbeit eindrucksvoll vor Augen, wie Kunst die Konkurrenz von Handlung und Zufall nicht nur produktiv nutzen, sondern dabei auch ihre gemeinsame Heimat im Reich der Kontingenz sichtbar machen kann.

Anna Virnich arbeitet ähnlich wie Kraiss, malt jedoch nicht nur mit Farben, sondern auch mit Stoffen. In der ausge­stellten Arbeit Glistening Light Hot Skin Jasmin (2019) hat sie einen wie Fischhaut glänzenden Stoff auf einen Rahmen gespannt und – gleich einem abstrakten Maler – korres­pon­die­ren­de Farbfelder resp. Stoffe aufgenäht, um eine für sie stimmige Gesamtkomposition zu schaffen. Ein glänzender wei­ßer Satin läuft keilförmig scharf von oben ins Bild und kontrastiert nicht nur mit dem beigen Grundstoff, sondern auch den orangen und fliederfarbenen Stoffen rechts von ihm, wobei der orange durch den fliederfarbenen durchscheint und so beide nochmal eine andere Wirkung entfalten. Der weiße Satin kehrt am rechten Rand wieder. Der fliederfarbene Stoff in der Mitte korrespondiert mit dem rosafarbenen Fetzen in der linken unteren Ecke, verrät aber mit seinen dunklen Ver­färbungen, dass er von der Künstlerin selbst bemalt worden ist, wobei auch hier der Zufall die beabsichtigte Wirkung befleckt. Ebenso musste die Hand der Künstlerin auf die Fra­gilität des Stoffes Rücksicht nehmen. Virnich arbeitet zwar kontrollierter als Kraiss, ihr Ma­terial liefert ihre Ar­beit jedoch stärker an den Zufall aus, weil jeder Stoff sei­­ne eigene Materialität und eigene Geschichte mitbringt.

Das Eigenleben der Dinge rückt in den Arbeiten von Alwin Lay in den Fokus. Lays akribisch geplanten und inszenierten Foto­grafien Klammer, (made in) (2022) und Fan Power (2022) zeigen Ob­jekte in absurden Situationen, so, als wären sie zufällig bei etwas erwischt worden, das sie normalerweise nicht tun. Die Klammer, die sich selbst verdreht, der Nagellack, der sich verschwendet: Übergroß und aus der Welt hinausgehoben, streifen sie mit ihrer Funktionalität auch ihren Platz in den Mittel-Zweck-Reihen ab, den wir ihnen zuweisen. Sie wollen kein Ding mehr sein, das wir für etwas verwenden, sondern ganz für sich selbst. Damit verlassen sie auch das Regime der Kausalität, das die Mittel-Zweck-Reihen regiert und erscheinen als Dinge, die nur um ihrer selbst willen da sind, ohne weiteren Grundnd das heißt zufällig.

Diesen Aufstand gegen die funktionale Ordnung der Welt, die Zu­­richtung der Dinge auf den Gebrauch und den Konsum, teilen sie mit der Skupltur Unititled (Car Tyre)(2010 von Wim Delvoye. Reifen sind eigentlich die ordinärsten Dinge auf der Welt. Niemand achtet auf sie. Sie werden einfach runter­gefahren, bis sie kaputt sind und haben mitunter auch dann noch einen Dienst zu erfüllen, als Gewichte auf Planen etwa oder Aufprallschutz im Verkehr. In Mexiko, so berichtet der Künstler, schneiden die Menschen Flipflops aus denen, die sonst gar nicht mehr zu gebrauchen sind. Zugleich rollt unsere ganze moderne Gesellschaft auf ihnen, jede Ware kommt auf Reifen daher gefahren, und als die jungen Pariser Anfang der 2000er Jahre in den Banlieues randalierten, schlitzten sie zielsicher die Reifen der Autos auf. In diesen Jahren ist auch die Handcarved-Car-Tyre-Serie von Delvoye ent­standen. Wie die randalierenden Jugendlichen nimmt auch Delvoye den Reifen ihre dienende Funktion, indem er sie aufschneidet. Er schlitzt sie jedoch nicht nur auf, sondern schneidet von Hand kunstvolle Ornamente hinein und stellt sie auf einen Sockel. Damit zerstört er die dienende Funktion nicht nur, sondern verwandelt sie in ein Kunstwerk. Die Reifen hören auf, etwas zu sein, das für etwas anderes da ist, und werden zu etwas, das für sich selbst da ist. Es hat seinen Grund, wenn es überhaupt einen hat und nicht nur zufällig da ist, in sich selbst. Das rückt das Kunstwerk in die Nähe der Dinge, die kontingent, also bloß zufällig da sind. Während es bei diesen aber gar keinen Grund gibt, der angeben könnte, warum sie da sind, hat das Kunstwerk diesen Grund in sich selbst. Das macht einen großen Unterschied. Denn alles, was bloß der Fall ist, ist für uns gleichermaßen gültig oder eben gleichgültig ist und wir betrachten diese Dinge, die nur zufällig da sind, mit Desinteresse (Kierkegaard) oder sogar Ekel (Sartre). Kunstwerke hingegen, die durch ihre formale Gestaltung behaupten, ihren Grund in sich selbst zu haben, werden bestaunt und bewundert. Neben der Gestaltung, trägt dazu allerdings auch ihre Inszenierung und institutionelle Verortung bei. Indem Delvoye die Reifen zu einem eigenen Werk erklärt und in einer Galerie ausstellt, wird ihnen ein besonderer Wert verliehen. Der Reifen wechselt die ontologische Ebene und wird von einem profanen Gegenstand der Massenkultur zu einem quasi-sakralen Objekt. Die an religiöse Ornamente erinnernde Schnitzerei unterstreicht diesen Wandel, sie bewirkt ihn aber nicht allein. Viele Qualitäten werden dem Reifen auch nur zugeschrieben. Er besitzt sie nicht von sich aus. So ist etwa sein Wert an den Marktwert des Künstlers gebunden, der wiederum von zahlreichen anderen Faktoren abhängt und genauso gut ein anderer sein könnte. Er ist zufällig. Es gibt nämlich keinen Grund, um nochmal Kant zu zitieren, der bestimmen könnte, warum er so ist und nicht anders.

Gregor Hildebrandts Bild DeLorean (2022) bezieht sich sowohl gestalterisch als auch inhaltlich auf den Zufall. Das Bild ist Teil eines Rip-off-Paares. Rip-off ist eine von Hilde- brandt entwickelte Methode zur Malerei mit Film oder Tonbändern. In diesem Fall liegt der Arbeit der Film Back to the Future (1985) von Robert Zemeckis zugrunde, der dem Bild auch den Titel gibt. Der inhaltliche Bezug besteht in der Geschichte, die dieser Film erzählt. Der jugendliche Marty McFly reist mit einem Automobil der Marke Delorean in die Vergangenheit und trifft dort auf seine Eltern als Jugend­liche. Das verändert jedoch die Ereignisse soweit, dass die Verbindung seiner Eltern immer unwahrscheinlicher wird. Marty kann das daran sehen, dass auf dem Familienfoto, das er bei sich führt, seine Geschwister langsam verschwinden. Am Ende ist nur er, der Jüngste übrig. Durch seinen beherzten Einsatz gelingt es ihm jedoch, die Dinge nicht nur wieder ins Lot zu bringen, sondern ihren Lauf so weit zu verändern, dass sich das Schicksal seines Vaters und damit das seiner ganzen Familie grundlegend ändert. Währender seinen Vater als erfolglosen und gedemütigten Mann verließ, findet er ihn „Zurück in der Zukunft“ als erfolgreichen Geschäftsmann wieder. Auch sein Leben hat sich verbessert. Der Film illustriert damit die Zufälligkeit von Biographien oder geschichtlichen Ereignissen, die immer auch andere hätten sein können. Er tut dies jedoch – und auch das gehört zum Verhältnis von Kunst und Zufall, das die Ausstellung illustriert – indem er eine mehr als nur wahrscheinliche Geschichte erzählt, nämlich eine, in der das, was geschieht, folgerichtig und notwendig erscheint, wie Aristoteles über die Dichtung gesagt hatte. Wir sehen nämlich, welche Handlungen welche Wirkungen haben und wie sich das Leben der Personen ändert, wenn sie anders handeln.[vi] Wir erfahren also keinen Zufall, sondern Notwendigkeit und Kausalität.

Hildebrandt behandelt diesen Stoff mit einer Technik, die wiederum das Zufällige betont. Er arbeitet mit zwei Lein­wänden, die er mit einem Kleber bestreicht. Auf diesem Kleber malt er dann mit Fixativ. Der Eindruck, den der Film bei ihm hinterlassen hat, inspiriert seinen malerischen Gestus. Er sieht jedoch nicht, was er malt, weil das Fixativ farblos ist. Er kann es nur an der Pinselgröße und Führung ungefähr abschätzen. Was er malt, ist also ein gutes Stück weit zufällig, es könnte so oder anders aussehen. Das Fixativ nimmt dem Klebeband dort, wo es aufgetragen, wird, seine Klebekraft. Im nächsten Arbeitsschritt wird das Videoband von der Kassette abgewickelt und auf die Leinwand geklebt. Später wird es wieder abgezogen. Dabei teilt es sich. Das Videoband hat zwei Seiten, auf einer ist das schwarze Magnetband, auf der anderen ein durchsichtiger Trägerfilm. Die schwarze Seite bleibt haften, die durchsichtige wird abgelöst. Mit einer Ausnahme: Dort, wo er mit seinem malerischen Gestus das Fixativ aufgetragen hat, löst sich auch die schwarze Seite des Bandes, weil kein Kleber sie hält. Das so abgelöste Band wird auf die zweite Leinwand übertragen. So entstehen zwei Bilder, von denen der Künstler nur ahnen kann, wie sie aussehen werden. In der Ausstellung ist das negativ zu sehen.

Ungeachtet der großen Rolle, die der Zufall in der Entstehung der Arbeiten spielt, treten diese mit großer Verbindlichkeit auf. Es scheint fast so, als gäbe es einen Grund, weshalb der Gestus „gerade so als in einer anderen Weise existiert“, wie Leibniz geschrieben hat. Wie der Wert bei der Arbeit von Delvoye liegt der Grund für diesen Eindruck jedoch nicht in der Arbeit selbst, sondern in denen, die sie betrachten.  Denn in der Arbeit überlagern sich verschiedene Schichten. Der Film ist nicht nur in seiner gestischen Interpretation durch den Maler präsent, sondern auch materiell und während wir das Bild anschauen, erinnern wir uns an den Film und versuchen, den von uns wahrgenommenen Geist des Films im Gestus des Malers wiederzuerkennen.

Ein verbindlicher Ausdruck des Zufälligen prägt auch die Portraits von Oliver Mark. Die Aufnahme von Rainer Maria Kar­di­nal Woelki (2012) ist z.B. nach einem Shooting für Die Zeit entstanden. Mark war die Spielothek, vor der er Woelki ablichtete, schon auf dem Weg zum Shooting aufgefallen. Er wartete aber die geplanten Aufnahmen ab, um einen entspannten Woelki dann erst auf dem Rückweg zu seiner Wohnung im Wedding anzuhalten und spontan zu knipsen. „Kardinal Woelki, drehen Sie sich mal um!“ Woelki lacht – und das Bild ist fertig. Wie bei Lay war auch hier die spontan wirkende Aufnahme lange geplant und vorbereitet. Marks Portrait des Künstlers Tobias Hantmann (2020) hatte einen ähnlich langen Vorlauf und kombiniert eine Landschaftsserie von Mark mit seinen Künst­ler­portraits. Die Landschaftsserie heißt Die Zeit machen wir später aus und portraitiert Orte im Wandel, z.B. Baustellen wie hier des Axel Springer Neubaus in Berlin. Die einzelnen Bilder halten einen Blick fest, den es so nur kurze Zeit gibt und der dann verschwindet. So einen Blick zeigt auch das Portrait von Hantmann, den Mark auf einer Party kennen­gelernt und dann instruiert hatte, was er tragen und wohin er kommen sollte. Auch die Beleuchtung der Aufnahme ist prä­zise gesetzt (Tageslicht von rechts, Gegenblitz von links). Die Tasche hat Hantmann aber selbst mitgebracht. Mark hatte sich nur irgendein Accessoire gewünscht. Dieses zu­fällige Requisit entfaltet jedoch eine große Wirkung, weil es die Haltung Hantmanns bestimmt und einen starken farb­lichen Kon­trast im fast monochromen Bild setzt. Woelkis Spielothek und Hantmanns Tasche zeigen, wie auch in Marks Aufnahmen die Anbrandungen des Zufalls das Bild bestimmen.

Thomas Zitzwitz macht die von Aristoteles formulierte Be­ziehung zwischen Kontingenz, Handlung und Zufall zur Grundlage seiner Faltenbilder, zu denen auch die hier aus­gestellte Arbeit Sans Titre (2022) gehört. Der Künstler knüllt und faltet die Leinwand spontan, bevor er sie auf die Leinwand spannt. So entstehen die Faltungen, die wir nachher im Bild sehen. Sie treten allerdings erst mit dem Farbauftrag deutlich hervor und die Wirkung dieses Farbauftrages wird durch die Faltungen mitbestimmt. Zugleich reagiert Zitzwitz beim Farbauftrag auf die sich nach und nach enthüllenden Faltungen der Leinwand. Da er mit der Sprühpistole arbeitet, kann er diesen Auftrag jedoch nicht genau kontrollieren, sondern muss dem Material eine eigene Wirkmacht überlassen. Wir können darin eine Metapher für unser Handeln sehen, denn so, wie sich die zufälligen Faltungen der Leinwand erst im Auftrag der Farbe enthüllen, enthüllt sich uns auch die Kontingenz der Wirklichkeit, in der wir handeln, erst während wir handeln. Und sie tut das so, dass sie uns die Handlung zwar ermöglicht – so, wie die Leinwand Zitzwitz den Farb­auftrag gestattet – uns mit den Wirkungen unseres Handelns aber auch immer wieder überrascht. [vii]

Zitzwitz gelingt es, diesen Prozess heiter zu gestalten. Seine Bilder haben ein Leuchten und eine Leichtigkeit, die uns auffordert, die Offenheit, der wir in unserem Tun aus­gesetzt sind, freudig zu begrüßen und mit leichter Hand zu gestalten. Führen wir unser Leben wie ein Maler, der eine Sprühpistole hält! Und lassen wir uns von den Überraschungen, die es für uns bereithält, nicht schrecken. Wäre die Wirk­lichkeit nicht dafür offen, könnten wir gar nicht handeln. An den Zufall ausgeliefert zu sein, ist der Preis der Freiheit. Die Freiheit aber ist schön, wenn wir sie leicht­nehmen.

Das lassen uns auch die anderen Arbeiten spüren, die Zitzwitz versammelt hat. Sie unterscheiden sich damit von Kunderas Roman, in dem den Figuren die Freiheit, oder die Leichtigkeit des Seins, wie sie dort heißt, unerträglich und schwer wird und die sich von den Zufällen, denen sie folgen, in ein unglückliches Schicksal verstricken lassen. Der Zauber, der dem Zufall innewohnt, ist bei Kundera verhängnisvoll. Damit spielt der Roman mit einer Sehnsucht nach Notwendigkeit und Ordnung, dem Traum von der Rückkehr in den Schoß Gottes und eine Welt, in der Zufälle keine große Macht besitzen – und die Trauer, dass diese Welt unrettbar verloren ging, weil der Zufall an die Stelle Gottes getreten ist. Diese Sehnsucht steckt auch im Hinweis auf die Vogelpredikt des Hl. Franziskus, den Kundera im eingangs zitierten Abschnitt gibt: „Soll die Liebe unvergeßlich sein,“ schreibt Kundera, „so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf den Schultern des Franz von Assisi“. Der Legende nach war es im umbrischen Bevagna, als „eine große Menge von Vöglein verschiedener Art zusammengekommen war“, um einer Predigt des Heiligen zu lauschen. Franziskus „ermahnte sie alle eifrig, das Wort Gottes zu hören, indem er sprach: „Meine Brüder Vöglein, gar sehr müßt ihr euren Schöpfer loben, der euch mit Federn bekleidet und die Flügel zum Fliegen gegeben hat; die klare Luft wies er euch zu und regiert euch, ohne daß ihr euch zu sorgen braucht.“[viii] Regiert werden, ohne sich sorgen zu müssen, diese Sehnsucht klingt ex negativo auch in Kunderas Roman an.

Die von Zitzwitz versammelten Künstler teilen diese Sehn­sucht nach der Notwendigkeit und das sentimentalische Leiden an der transzendentalen Obdachlosigkeit allerdings nicht. Im Gegenteil, ihre Kunst feiert die Freiheit eines Lebens in der Kontingenz. Sie sind nicht die „Vögel des Franz von Assisi“, sondern die Vögel des Zufalls und flattern fröhlich durch einen offenen Himmel.

Die Arbeit Guilty Flowers (2018) von FORT greift einen besonderen Aspekt dieser Offenheit auf. Die Installation besteht aus einem Mülleimer, wie wir ihn aus Fußgängerzonen oder von Bushaltestellen kennen, in dem ein Blumenstrauß aus fünfzehn frischen Nelken steckt. Was ist passiert? Die Installation provoziert den Betrachter, sich selbst eine Geschichte auszudenken du überlässt ihre Wirkung mithin dem Zufall. Hat jemand auf eine Verabredung gewartet, die nicht gekommen ist? Gab es einen Streit? Wollte sich jemand entschuldigen und wurde nicht erhört? (Der Begriff Guilty Flowers könnte darauf anspielen, weil im englischen Sprachraum damit Blumen bezeichnet werden, die wir jemanden schenken, weil wir uns schuldig fühlen.) Aber haben die Künstlerinnen wirklich daran gedacht? Vielleicht ist das auch schon konkret gedacht, und die Blumen und der Müll, die Blumen im Müll verweisen auf etwas ganz anderes. Die Installation belässt ihre Deutung bewusst in der Schwebe und überlässt sie ganz denen, die sie betrachten.

Björn Vedder

 

[i] G.W. Leibniz, Theodizee, §44; zit. nach der dt.-frz. Suhrkamp-Ausgabe 1999, S. 273 § 303

[ii] David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. v. Raoul Richter, hrsg. V. Jens Kulenkampff, 12. Aufl., Hamburg 1993, S. 95.

[iii] Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, §§ 27-30.

[iv] Aristoteles, De Interpretatione, 9. Vgl Rüdiger Bubner, „Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhtorik“, in: Poetik und Hermeneutik, Bd. 17, Kontingenz, hg. v. Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias Christen, München 1998, S. 3-22

[v] Hesiod, Theogonie, Verse 729ff.

[vi] Aristoteles, Poetik, Kap. 9.

[vii] Die Arbeit ließe sich freilich auch in der Perspektive einer nicht zufälligen, sondern notwendigen Wirklichkeit lesen, denn: Was uns beim Auftrag der Farbe als zufällige Faltung der Leinwand erscheint, ist ja vorher vom Künstler gemacht worden. Übertragen auf unser Handeln hieße das, dass die uns kontingent erscheinende Wirklichkeit das Produkt eines Schöpfers ist, dessen Pläne wir nur noch nicht kennen. Das läge grosso modo auf der Linie von Leibniz, der sich in seiner Theodizee dann zu zeigen bemüht, dass diese Pläne gut sind. Letzterem würde Zitzwitz‘ Arbeit mit ihren zufälligen Faltungen der Wirklichkeit freilich widersprechen. „Gott würfelt nicht,“ sagte Albert Einstein. „Doch“, sagt Zitzwitz‘ Arbeit. Hier wird aber auch die Grenze dieser Sicht auf die Arbeit deutlich, denn sie setzt voraus, dass der Künstler sowohl der Gott ist, der die Wirklichkeit entwirft, als auch der Mensch, der in ihr handelt.

[viii] Henry Thode, Franz von Assisi, 4. Aufl., Wien 1936, S. 150.